Rodins "Bürger von Calais"
geschrieben am 16.06.2022 von Ulrich ForsterSechs Männer stehen dicht zusammen – und doch ist jeder ganz auf sich alleine gestellt. Jeder muss selbst mit seinen widerstreitenden Emotionen zurechtkommen.
Unterschiedliche Charaktere und Menschen unterschiedlichen Alters reagieren jeweils auf eigene Art auf eine extreme psychische Herausforderung.
Das ist das Thema der berühmten Skulpturengruppe.
1885 wurde Auguste Rodin (1840 - 1917) von der Stadt Calais beauftragt, die Bronzegüsse nach der zuvor in verschieden Tonmodellen akribisch erarbeiteten Figurengruppe auszuführen.
Geehrt werden sollte mit einem Denkmal eine viele Jahrhunderte alte Heldentat: Sechs angesehene Bürger hatten sich (der Überlieferung nach) im Juni 1346, als die Stadt am Ärmelkanal während des Hundertjährigen Kriegs von englischen Truppen belagert war und sich in einer aussichtslosen Situation befand, bereit erklärt, sich als Geiseln auszuliefern. Dass dies mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Tod bedeuten würde, ist ihnen dabei vollkommen bewusst.
Es ist sehr viel geschrieben worden über dieses Werk, das zu den berühmtesten Plastiken der europäischen Kunstgeschichte zählt.
Geradezu reflexhaft wird dabei immer wieder betont, dass Rodin in provokanter Weise "die Denkmalstradition revolutioniert" hat.
Auch wenn die irrtümliche Behauptung längst widerlegt ist, wird nach wie vor in diesem Zusammenhang oft behauptet, das Avantgardistische erweise sich besonders in Rodins kühnem Vorschlag, die Figuren ohne Sockel zu ebener Erde aufzustellen.
Warum lassen sich solche Missverständnisse so schwer aus der Welt schaffen?
Es muss mit dem alles beherrschenden Glaubensbekenntnis unserer Zeit zu tun haben, nach dem wir davon ausgehen, dass sich die Qualität eines Kunstwerks vor allem daran ablesen lässt, wie kühn sein Schöpfer mit den Konventionen der Epoche gebrochen hat.
"Er wurde von den Zeitgenossen missverstanden" und "er war seiner Zeit weit voraus" – das sind die Floskeln, mit denen wir Künstler oder Künstlerinnen heilig sprechen.
Gleich dreimal innerhalb weniger Monate durfte ich zuletzt mit viel Zeit das wundervolle Musée Rodin in Paris besuchen und hatte ausführlich Gelegenheit, über die Figuren nachzudenken, die als komplette Gruppe gleich neben dem Eingang aufgestellt sind und die sich in unzähligen Varianten in unterschiedlichen Größen und Materialien als Einzelfiguren, als Skizzen, als Fragmente, als Studien und Modelle im Garten verteilt und in den herrlichen Räumen des Hotel Brion wiederfinden.
Nein, es ist nicht Rodins Avantgardismus, der die "Bürger von Calais" so großartig, so packend, so einzigartig macht.
Es ist schlicht und einfach sein überragendes bildhauerisches Talent!
Rodin gelingt es, das hoch pathetische Thema, dem er sich gestellt hat, so umzusetzen, dass wir dieses Pathos auch heute noch ertragen – das ist seine große und eigentliche Leistung. (Dagegen sind Fragen um einen hohen, mittleren oder auch gar keinen Sockel pedantische Nebenkriegsschauplätze.)
Um besser zu verstehen, was den Unterschied ausmacht, empfiehlt es sich, einen kleinen Spaziergang am Musée Orsay vorbei und über einen Seine-Steg hinweg in den Tuileriengarten machen.
Der Bildhauer Henri Vidal (1864 - 1918) hat seinen "Kain nach der Ermordung Abels" wenige Jahre nach Rodins Calais-Figuren geschaffen. Die Gemeinsamkeiten sind so evident, dass der Vergleich ungemein lehrreich ist.
Es ist so wenig und es ist so schwer zu beschreiben aber jeder, der ein wenig Gespür hat, empfindet den gewaltigen Unterschied sofort: Der Übergang von fesselnder Ausdruckskraft zum pathetischen Kitsch ist nur ein winzig kleiner Schritt. Nur den Allerbegabtesten und den schonungslos selbstkritischen Arbeitern gelingt der Balanceakt auf der Rasierklinge ohne abzustürzen...
Mit Worten ist es so schwer zu erklären, wie genau es Rodin eigentlich gelingt – was seine Figuren so glaubhaft, was die Gesten und Gesichter psychologisch so dicht und wahrhaftig macht. Es ist, denke ich, das gleiche Talent wie das, welches einen herausragenden Schauspieler auszeichnet, der uns (ohne dass wir uns dafür schämen) zum Weinen bringt, während wir bei einem weniger begnadeten in nahezu derselben Szene peinlich berührt die Augen verdrehen.
Keine weiteren Worte also und dafür noch eine Bilderstrecke zum An- und Durchklicken, entstanden während meiner letzten Parisaufenthalte.
Man sieht es ja doch alles selbst...