KUNSTgedankenFrancesco Mochis "Verkündigung" in Orvieto

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Francesco Mochis "Verkündigung" in Orvieto

 

Kennen Sie das? Ganz plötzlich und ohne dass Sie vorher irgendwelche näheren Erwartungen hatten, stehen Sie vor einem Kunstwerk und sind unmittelbar gebannt (elektrisiert, bezaubert…)?

Ich durfte das immer wieder erleben und - ich hoffe jetzt nicht übermäßig pathetisch zu klingen – das sind wirklich erregende und beglückende Momente im Leben!

Leider geschieht es in den letzten Jahren nur noch selten, dass ich unvorbereitet auf ein Kunstwerk treffe. Wenn ich zur Vorbereitung einer Kunstreise unterwegs bin, muss ich mich natürlich vorab genau erkundigen, was wo zu sehen ist. Umso schöner sind aber diese besonderen Momente, wenn sie dann doch eintreten – auch weil ich weiß, dass ich schon bald meine Begeisterung mit interessierten Menschen werde teilen können. Ein ganz besonders intensiver Moment der geschilderten Art verbindet mich mit dem Werk, das ich heute als erstes in der Rubrik „Lieblingswerke“ vorstellen möchte.

Im Oktober 2014 habe ich zum ersten Mal eine Kunstreise nach Umbrien geleitet. Im Sommer davor war ich noch einmal zur Vorbereitung in der Region. Vieles kannte ich bereits, aber manche Orte wollte ich neu oder noch einmal sehen, um besser einschätzen zu können, ob es sich lohnt, sie mit einzubeziehen und wie sich das sinnvoll in den Tagesablauf einbinden lässt. Orvieto ist eines der herrlichen Ziele, die unbedingt zu einer Kunstreise nach Umbrien gehören. Dort aber ist natürlich vor allem der grandiose Dom aus dem 13. Jahrhundert (einschließlich der späteren Renaissance-Fresken Luca Signorellis in der San Brizio Kapelle) der unbestrittene Höhepunkt.

In den Altstadtkern Orvietos gelangt man als Tourist in der Regel, indem man am Fuß des eindrucksvollen Tuffsteinplateaus, auf den die Stadt gebaut ist, parkt und dann mit der Funicolare (der Zahnradbahn) die knapp 160 Höhenmeter von der Ebene hinauf in die historische Stadt überwindet. Der Corso Cavour durchzieht als beschiedene Hauptstraße die überschaubare Altstadt. Auf halber Stecke biegt man dann links zum berühmten Duomo ab. Folgt man aber dem Corso bis zum gegenüberliegenden Ende des Felsplateaus, gelangt man zu einer jener herrlichen Aussichtsterrassen, von denen aus man einen überwältigenden Blick in die ländliche Umgebung Umbriens und hinüber ins nahe Latium hat. Genau dort befindet sich auch der recht unscheinbare (profanierte) Kirchenbau Sant` Agostino. Kaum ein Tourist verirrt sich dorthin. Selbst der dicke und gelegentlich pedantisch genaue DuMont Kunstreiseführer widmet dem Ort nur magere drei Zeilen. Deswegen hätte ich auch um ein Haar darauf verzichtet, dorthin zu gehen – war das geplante Programm doch eigentlich ohnehin bereits randvoll. Wäre ich also an diesem Tag nur ein ganz klein wenig bequemer gewesen, hätte ich ein Kunstwerk wahrscheinlich nie kennengelernt, von dem ich behaupte, dass es eines der besten und ausdrucksstärksten ist, das die westliche Bildhauerkunst je hervorgebracht hat (eine etwas kühn wirkende Behauptung, die ich aber ohne zu zögern in jedem Kreis von Fachleuten laut wiederholen und begründen würde):

Die Annunciazione (Verkündigung)
des italienischen Barock-Bildhauers Francesco Mochi (1580 – 1654)

 

Francesco wer?

Machen Sie sich keine Gedanken, wenn Sie den Namen nicht kennen! Er ist zwar kein völlig Unbekannter, aber doch eher ein Geheimtipp für Fachleute. Auch die kennen meist nur genau eine Figur von ihm, nämlich seine berühmte Hl. Veronika, die sehr prominent in der zentralen Vierung des Petersdoms in Rom ihr wild wehendes Schweißtuch dem Betrachter entgegenhält. In Piacenza befindet sich noch ein (recht affektiertes) Reiterstandbild auf der „Piazza dei Cavalli“ – alles andere ist wirklich nur etwas, das die Spezialisten der kunsthistorischen Zunft kennen müssen. Und keines der Werke, die ich seitdem von diesem Künstler gesehen habe, erreicht auch nur annähernd diese besondere Intensität, diese Raffinesse, die Präzision und Feinheit jener Verkündigungsgruppe in Orvieto.

Das ist sie, die bei weitem bekannteste Skulptur Francesco Mochis: die Heilige Veronika, die er im Jahr 1640 vollendet hat. Damals zählt er offenbar zu den berühmtesten Bildhauern seiner Zeit, was sich an dem höchst ehrenvollen Großauftrag an einem so prominenten Ort zeigt. Der unbestritten Star-Bildhauer dieser Zeit aber ist der große Gianlorenzo Bernini - er steuert ebenfalls eine der vier Figuren für die Umgestaltung der Vierung bei und ist außerdem damals auch, als Dombaumeister an Sankt Peter, der Leiter des Gesamtprojekts. Legendär ist die Feindschaft zwischen Mochi und dem als gnadenlosem Kämpfer gegen alle potentiellen Konkurrenten geltenden Bernini. Hat vielleicht Berninis überragender Einfluss und seine rücksichtslosen Intrigen, mit denen er Konkurrenten aus dem Feld zu räumen wusste, wesentlich dazu beigetragen, dass Mochis Karriere nach der Vollendung der Figur im Petersdom ihren Zenit überschritten hatte und sein Ruf in Rom immer stärker in Zweifel gezogen wurde?
Ich habe die Frage einmal mit dem Bernini-Biografen Arne Karsten diskutiert, der diese Vorstellung für sehr realistisch hielt.

(Übrigens absolut lesenswert: Arne Karstens Buch "Bernini. Der Schöpfer des barocken Rom" - erschienen bei C H Beck)

Der Überraschungseffekt dieses Kunsterlebnisses, das ich damals in Orvieto hatte, war umso intensiver, als ich im ersten Moment, da ich den zum provisorischen Ausstellungsraum umfunktionierten Kirchenraum betreten habe, unwillkürlich mit einem gewissen Widerwillen reagiert hatte. Lieblos wirkt die provisorische Ausstellung (es sind hier Teile der skulpturalen Ausstattung des einst barockisierten und später wieder re-gotisierten Doms untergebracht), grob und unangemessen, ja ein wenig aufdringlich, die weit überlebensgroßen Figuren aus dem 17. Jahrhundert - sie waren ja auch für die ganz anderen Dimensionen und wahrscheinlich für hochgelegene Standorte des Doms gefertigt worden. Ich hatte diesen Kunstort also schon spontan „abgeschrieben“, als mein Blick auf jede zwei Figuren im Chorraum fiel – und das war eben jener „Liebe-auf-den-ersten-Blick-Moment", der so besonders kostbar für mich war. Auch ich war übrigens zunächst ratlos, als ich dann den Namen „Mochi“ auf dem kleinen Ausstellungsschildchen gelesen hatte und es dauerte  eine Weile, bis ich die Assoziation zu der berühmten Figur im Petersdom hergestellt habe. Musste ich erst "googlen"? Ich kann mich nicht erinnern. Genau erinnere ich mich aber daran, dass ich nicht fassen konnte, dass so etwas Großartiges so schäbig an einem so unbekannten Ort steht. Wie konnte das nur möglich sein?

Die Aufstellung der aus dem Dom entfernten Figuren in Sant` Agostino ist offenbar als Provisorium gedacht. Später sollen sie an einen würdigeren Ort in einem Palazzo in der Nähe des Doms umziehen. Seit 2014 hat sich aber nichts daran geändert. Provisorien können - nicht nur in Italien! - sehr langlebig sein...

Mochis „Annunciazione“ ist ein hervorragendes Exempel, wenn man darüber nachdenken möchte, ob denn die weltberühmten „Stars“ unter den Werken der Kunstgeschichte wirklich so herausragend sind, wie es ihr Ruhm nahelegt. Meine Antwort darauf lautet so: Jedes der sehr berühmten Kunstwerke (Michelangelos „Moses“, Raffaels „Sixtinische Madonna“, Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“, Rembrandts „Nachtwache“, Picassos „Guernica“…) hat ganz besondere, ja einzigartige, künstlerische Qualitäten, die es heraushebt aus der Masse durchschnittlicher Kunstproduktion. Aber: diese besonderen Qualitäten sind tatsächlich nur ein kleiner Teil dessen, was zu dem übermäßigen Ruhm dieser Werke tatsächlich beiträgt. Der Rest ist eine schwer durchschaubare Melange aus sehr unterschiedlichen Faktoren, die zusammenspielen müssen. Rezeptionsgeschichtliche Zufälle spielen eine große Rolle: Die Prominenz des Ortes etwa, an dem so ein Werk auf- oder ausgestellt ist (Sixtinische Kapelle) und der Umstand, ob dieser Ort über die Jahrhunderte, so wie er gedacht war, unverfälscht erhalten blieb. Zahlreiche weitere Faktoren, die oft gänzlich außerhalb des Kunstwerks selbst liegen, werden wirksam. Sehr häufig sind es Projektionen, die wir „in das Kunstwerk hineintragen“, etwa indem wir es als Nationalsymbol, als Symbol des Widerstands gegen ein tyrannisches Regime oder auch als vermeintliches Symbol für den Geist einer ganzen Epoche (Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“) verstehen. Manchmal sind es auch literarisch ambitionierte Interpreten, die die außerordentliche Popularität begründen und gelegentlich entsteht geradezu ein literarisch-geistreicher Wettstreit (Velázquez „Las Meninas“). Und schließlich ist die heldenhafte Überhöhung der Künstlerpersönlichkeit (Michelangelo – oder in der tragischen Variante: Van Gogh) der entscheidende Faktor. All das kann zu einer Form von kulthafter Kunstverehrung führen, die mitunter geradezu hysterische Züge trägt („Mona Lisa“!) und sich jeder rationalen Begründung aus dem Kunstwerk selbst heraus entzieht. (Womit nicht gesagt wäre, dass die Mona Lisa keine reizvollen Qualitäten hätte!)

Im Fall unsrer „Verkündigung“ haben wir nun aber genau das umgekehrte Phänomen: Ungünstige Umstände haben dazu geführt, dass Francesco Mochis offenbar überragendes Talent nicht zu einer Karriere geführt hat, die für einen die Jahrhunderte überdauernden Ruhm ausreichte - im 18. und 19. Jahrhundert geriet er fast vollständig in Vergessenheit. Und unser herausragendes Meisterwerk (eines gerade einmal 25-jährigen (!) Künstlers) ist nach der Entfernung aus dem Dom, über Umwege in diese so unscheinbare Kunst-Abstellkammer geraten. (Wo wir es aber gerade deswegen vollkommen ungestört genießen und vor allem: SELBST entdecken können!)


Ich habe nun viel über äußere Umstände gesprochen und die Großartigkeit der Skulpturengruppe wiederholt einfach behauptet. Das führt uns aber unweigerlich zu der Frage: LÄSST sich denn die Qualität eines Kunstwerks überhaupt beschreiben. Oder anders: Ist jenes intensive Erlebnis, das ich in jenem Sommer angesichts der beiden Figuren hatte, jene Erregung,  nicht vor allem ein sehr subjektives Empfinden („Liebe auf den ersten Blick“), das sich objektiv gar nicht fassen lässt?

Das liebe Kunstfreund*innen ist eine weitere der ganz großen Kunstfragen, über die wir an anderer Stelle einmal hier auf dieser Plattform intensiver nachdenken und diskutieren sollten. Hier nur so viel dazu: Ich glaube ganz sicher, dass sich die Qualität eines Kunstwerks und das, was seine Wirkung hervorruft, beschreiben lässt. Ich glaube dagegen nicht an ein unerklärliches Mysterium künstlerischer Magie – an das, was nicht benennbar ist und deshalb auch nicht benannt werden sollte (und ich bin damit gewissermaßen ein häretischer Agnostiker der Kunstreligion.)

Was aber macht dann die von mir behauptete Einzigartigkeit dieser Figuren aus?

Ich habe beschlossen, die Beantwortung dieser Frage aufzusparen. Seien Sie nicht enttäuscht. Ich will Ihnen nach Abschuss der ersten Vortragsreihe zum Thema LICHT gerne eine nächste Reihe anbieten, die den Schwerpunkt auf Werke der Bildhauerei legt. Mit Mochis „Verkündigung“ werde ich mich dann noch einmal ausführlich beschäftigen. Hier an dieser Stelle, als erstem Beitrag in dieser Rubrik, sollten diese anderen, grundsätzlichen Gedanken zum Kunsterleben und - lieben im Vordergrund stehen. Lassen Sie die Bilder auf sich wirken und machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken dazu und schreiben Sie sie gerne unten in die Kommentare.