KUNSTgedankenDie eindrucksvollen Skulpturen der Khmer

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Die eindrucksvollen Skulpturen der Khmer

Beobachtungen und Kunstgedanken in der großartigen Sammlung des "Musée Guimet" in Paris

In diesem Artikel, den ich unter der Rubrik "Lieblingswerke" veröffentliche, werde ich nicht über ein einzelnes Kunstwerk sprechen. Dieser Beitrag ist vielmehr als Liebeserklärung an eine ganze Kultur gedacht, oder präziser ausgedrückt: An die bewundernswerte Tradition skulpturalen Schaffens, die diese Kultur hervorgebracht hat und die in ihrer Art einzigartig ist und für mich zum bedeutendsten gezählt werden muss, was Menschen auf dem Gebiet der Bildhauerei hervorgebracht haben.

Keinen der Bildhauer der Khmer-Kultur des Ankor-Reiches, dessen kulturelle Hochblüte sich vom 10. bis zu 13. Jahrhundert erstreckte, bevor ein allmählicher Niedergang einsetzte, kennen wir mit Namen. Dennoch standen viele von Ihnen an handwerklichem Können und an künstlerischer Kraft weder den legendären Bildhauern des klassischen Griechenland, noch den Donatellos, Michelangelos oder Berninis der Neuzeit und oder den Heroen der westlichen Moderne – einem Rodin, Henry Moore, einer Barbara Hepworth oder einem Giacometti – in irgend einer Hinsicht nach.

Aber nein – so geschrieben stimmt das doch nicht.
Sieht man sich die Reihe der Köpfe an, die ich hier zeige, gibt es sehr wohl eine bestimmte Qualität, die all diese genannten, zum Kanon der eurozentristischen Kunstgeschichtserzählung zählenden Künstler*innen, auszeichnet und die den Khmerbildhauern offensichtlich fehlt: Individualität und unverwechselbare Handschrift.

von links nach rechts: "Brahma" (Ende 9. Jh.) / "Shiva" (Ende 9. - Anfang 10. Jh) / "Vishnu" (Ende 9. - Angang 10. Jh)
von l. nach r.: "weibliche Gottheit" (drittes Viertel 10. Jh.) / "Bodhisattva Vajrapani" (Anfang 11. Jh) / "Porträt des Herrschers Jayavarman VII. (Anfang 13. Jh.)

Etwa dreieinhalb Jahrhunderte liegen zwischen der Entstehung der ältesten und derjenigen der jüngsten Skulpturen, die ich oben zeige. Wenn man sich intensiv genug damit auseinander gesetzt hat, lernt man durchaus eine gewisse Entwicklung zu erkennen. Die Formensprache wird im Laufe der Zeit etwas weicher. Aber das sind tatsächlich nur Nuancen. Auch wenn der geübte Betrachter die Unterschiede wahrnehmen kann: die Gemeinsamkeiten sind doch sehr viel offensichtlicher.

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Als eindrucksvolle Konstante durchzieht die Werke der Khmer-Bildhauer jenes großartige Formbewusstsein, dieser enorme Abstraktionsgrad in der Figurenauffassung. Sie hatten ein sehr starkes Gespür für Körperlichkeit.
Nur auf den ersten Blick wirken die Köpfe sehr naturnah. Tatsächlich ist die Wiedergabe aber alles andere als eine schlichte Wiederholung des in der Natur beobachteten Gegenstands. Vielmehr "übersetzen" die Künstler die gesehenen Formen mit großer Entschiedenheit in eine ornamentale, gewissermaßen abstrakte Formensprache.
Die Khmer lösen sich nicht in derselben Weise radikal vom Naturvorbild wie das etwa die Holzschnitzer aus Afrika oder Ozeanien getan haben. Ihre Götter und Göttinen sind weit weniger expressiv und fantastisch als deren Geister und Dämonen.
Aber sie strebten auch nicht nach jenem Naturalismus, der seit der griechischen Klassik einen Großteil der Epochen der europäischen Bildhauerei bis zum Beginn der Moderne bestimmte.

Betrachtet man etwa den "Bodhisattva" (rechts) von Nahem und ganz genau, erkennt man vor allem bei den Details wie der Gestaltung der Augen (perfekte Kugeln, die durch verschiedene konzentrische Kreise gegliedert sind) oder auch des (wie bei allen Khmer-Köpfen) von einer ornamentalen Linie umzeichneten Munds, den von mir beschrieben Abstraktionswillen.
Besonders eindrucksvoll sind auch die hauchzarten und mit äußerster Präzision eingravierten Lienen, die Falten unter den Augen oder am Hals andeuten sollen.
Die Spannung zwischen der weichen und unmittelbar den Proportionen und Verläufen der menschlichen Natur abgeschauten großen Form von Körper, Hals und Kopf und der kühlen geometrisierenden Abstraktion im Detail – sie macht den großen Reiz dieser wunderbaren Kunstwerke aus.

Das alles hat sich kein einzelnes Künstlergenie ausgedacht, sondern es ist in einem langen, langsamen Prozess entstanden.
Wir wissen nicht viel über die Bedingungen und über den sozialen Status der "Künstler", die diese Werke geschaffen haben. Sehr wahrscheinlich gab es auch unter ihnen besondere Begabungen, die sich einen Ruf erarbeitet hatten und die vom jeweils reichsten oder mächtigsten Auftraggeber zum Dienst verpflichtet wurden.
Noch wahrscheinlicher ist es aber, dass sowohl diese Auftraggeber als auch die Schaffenden selbst verwundert die Köpfe geschüttelt hätten, hätte man sie mit unserer modernen Vorstellung von Kunst und Künstlertum konfrontiert, die von der Idee ausgeht, dass große Kunst als Ausdruck einer besonderen individuellen Persönlichkeit entsteht.
Auch die Idee dass Kunst sich immerfort erneuern muss, weil sie sonst in Wiederholung erstarrt und dadurch automatisch degeneriert und nach und nach schwächer werden muss, wie sie sich seit der italienischen Renaissance in unseren Köpfen festgesetzt hat, wäre den Khmer (wie den allermeisten Vertretern großer Kulturen der Menschheitsgeschichte) ganz und gar abwegig erschienen.

Ich habe mich in den vergangenen Jahren oft und intensiv mit diesen uns prägenden Kunstvorstellungen auseinandergesetzt und auch in diesem Magazin in den vergangenen 12 Monaten seines Bestehens immer wieder darüber geschrieben und sie problematisiert. Ich will diesen Beitrag nutzen, um das, was mich da umtreibt, noch einmal zu erläutern.

Jeder der mich ein wenig kennt weiß, wie sehr ich die Werke der europäischen Kunstgeschichte liebe, die durch jene Idee von Kunst hervorgebracht wurde. Auch die Geschichte der modernen Kunst finde ich sehr aufregend. Ich bin mit ihr aufgewachsen und von ihr geprägt worden. Vieles daran ist großartig und in gewisser Hinsicht einzigartig. Je länger ich mich aber mit der Kunst beschäftige und wenn ich mich darum bemühe den engen eurozentristischen Blickwinkel zu weiten, desto klarer meine ich zu erkennen, wie relativ und in gewisser Weise willkürlich die Kunstvorstellungen, die die allermeisten von uns verinnerlicht haben, doch in Wahrheit sind.

Aber genau das ist doch eine Errungenschaft der europäisch-westlichen Kunst- und Kulturgeschichte, dass sie ständig hinterfragt hat, dass sie sich (und die Vorstellungen von der Kunst) permanent erneuert hat und dass sie spätestens mit Beginn der Moderne keinerlei Dogmen mehr hat gelten lassen! (Mag ein engagierter Leser oder eine aufmerksame Leserin an dieser Stelle einwenden.)
Das ist scheinbar richtig – und doch stimmt es nicht ganz.
Es gibt doch Dogmen, die weitgehend unhinterfragt seit ein paar Jahrhunderten, vor allem aber seit dem Aufbruch in die Moderne in den Köpfen praktisch aller Menschen, die sich mit Kunst beschäftigen, festsitzen (und übrigens auch in die entsprechenden Gesetzestexte zum Thema eingegangen sind).

Zwei Vorstellungen sind es vor allem:
Dass Kunst das Produkt und der Ausdruck der kreativen Energie eines Individuums ist und dass Kunst immer hinterfragen, aufbrechen und dass sie sich dadurch beständig erneuern kann und muss.

Diese Ideen haben den Boden für eine enorme Zahl spannender Dinge bereitet – ohne jeden Zweifel.
Zugleich haben sie uns diese permanente Rast- und Orientierungslosigkeit beschert, die (wie unsere Gesellschaft überhaupt) auch die Kunstwelt bestimmt. Man kann mit einigem Recht daran zweifeln, dass die Vorteile die Nachteile wirklich überwiegen.
Aber es geht mir nicht darum, darüber zu entscheiden oder gar nostalgisch eine vergangene, scheinbar heilere (Kunst-)Welt wieder heraufzubeschwören. Wichtig ist mir etwas anderes:
Wenn ich den Blick weite und mir vorurteilsfrei das Exzellenteste aus allen Welten, Zeiten und Kulturen anschaue, kann ich einfach beim besten Willen nicht feststellen, dass Kategorien wie "Erneuerung" und/oder "Individualität" in irgendeiner Weise notwendige Voraussetzung für die Hervorbringung hervorragender Kunsterzeugnisse sind. Wenn wir das meinen, dann erliegen wir entweder den Glaubenssätzen unserer Zeit oder aber wir verwechseln Exzellenz (Qualität oder welche Vokabel auch immer man bevorzugt) mit Spannung, Aufregung und Unterhaltsamkeit.
Wenn uns das wichtig ist, müssen wir natürlich in moderne Kunstmuseen gehen. Dort ist ständig Aufregendes und Unterhaltsames geboten.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich bin dafür durchaus empfänglich!
Aber jedes mal wenn ich wieder im Musée Guimet bin (und ich gehe eigentlich jedes Mal dort hin, wenn ich wieder nach Paris komme) bin ich erregt angesichts der Dichte und der qualitativen Höhe und Feinheit dessen, was ich da sehe und ich fange immer wieder an zu zweifeln, ob wir wirklich einen guten Tausch gemacht haben.
Ganz sicher aber bin ich mir dann, dass Individualität und permanente Erneuerung eben KEINE notwendige Voraussetzung für große Kunst sind. Das sind Dinge, die ein marktwirtschaftlich funktionierender Kunstmarkt benötigt und eine kulturelle Unterhaltungsindustrie. Keinesfalls sollte man das aber mit einer Art "Grundgesetzlichkeit" der Kunst an sich verwechseln.

Ankor Wat am Morgen

Foto: Magentic Manifestations / CC BY-SA 3.0 (via WikiCommons)

Über viele Jahrhunderte übte die Kultur Indiens eine prägenden Einfluss auf den gesamten süd-ost-asiatischen Raum aus. Auch in der Region des heutigen Kambodscha übernahm man diese kulturellen, wie auch religiösen Einflüsse (Hinduismus und Mahayana-Buddhismus). Im Laufe des 8. und 9. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung aber bildete sich im Binnenland ein neues starkes Reich heraus, das Reichtum durch Handel und eine sehr fortschrittliche Landwirtschaft erlangte – das Reich der Khmer-Könige von Kambuja (oder auch einfach Reich der Khmer).
Bald schon ermöglicht dieser Reichtum den Bau von prachtvollen Städten und gewaltigen Tempelanlagen, deren bedeutendste die im 12. Jahrhundert errichtete Anlage von Ankor Wat wurde. Sie bildete das Zentrum einer riesigen Hauptstadtregion Ankor, in der möglicherweise bis zu einer Millionen Einwohner lebte (zu einer Zeit als in Nordeuropa Städte wie Paris oder Köln mit 30 - 40-tausend Einwohnern die größten Metropolen waren)

Mit dem Bau der imposanten Tempelbezirke löste sich die Kunst der Khmer auch merklich vom vorherrschenden Einfluss der indischen Kultur. Oben (rechts) zeige ich ein schönes Fragment einer weiblichen Gottheit aus Rajasthan, die im 10. Jahrhundert geschaffen wurde. Sie zeigt jene für die indische Skulptur so typische Bewegtheit und überbordend sinnliche Dynamik. Links daneben die (ein wenig ältere) Vishnu-Figur vom Khmer-Tempel Prasat Thma Dap (Provinz Siam Rep).
Die Gegenüberstellung zeigt uns deutlich den Unterschied in der Figurenauffassung. Die ausgeprägte Bewegtheit macht einer größeren Statik und Monumentalität Platz.
Möglicherweise drückt sich ein anderes Körpergefühl in diesen Formen aus oder das Bedürfnis einer herrschenden Klasse, die sich in kraftstrotzenden Götterbildern selbst gespiegelt sehen wollte.

Man hat immer wieder den Vergleich zu den Skulpturen des antiken Ägyptens gezogen. In der Tat findet sich etwas von deren eindrucksvoller Monumentalität, die sich ebenfalls durch einen hohen Abstraktionsgrad auszeichnet, in den Khmer-Skulpturen wieder.
Der wichtigste Grund für die Abweichung zur indischen Bildhauertradition aber hat mit der Idee zu tun, große freistehende und vollplastische Figuren in den gewaltigen Tempelanalagen aufzustellen. Die indischen Steinfiguren sind dagegen durchweg Reliefs oder sind jedenfalls bildhaft frontal gedacht und immer an eine Rückwand gebunden. Das ermöglicht schon rein statisch ganz andere Freiheiten.
Durch den Ehrgeiz, vollplastische Figuren zu schaffen, waren die Khmer-Bildhauer zu einer größeren Einfachheit gezwungen. So gelangten sie zu ihrer einzigartigen Formensprache, die gewissermaßen eine Synthese zwischen der Eleganz und dem bewegt-weichen Schwung der indischen und der auratischen Strenge der ägyptischen Skulptur bildet und beide Pole in einer wunderbaren Balance verbindet.

Das Bild links zeigt noch einmal den großartigen Porträtkopf, das den letzten großen Khmer-.Herrscher, König Jayavarman VII., darstellt. Er regierte von 1181 bis 1206 (möglicherweise aber auch bis 1220). Anders als seine Vorgänger war er ein Anhänger der Buddhistischen Religion. Auch deswegen erweitert er die Hauptstadt weiter nach Norden und baut mit Ankor Thom auch einen neuen großen Tempelbezirk, der vor allem für seine meterhohen Gesichtertürme berühmt ist.
Mit ihm endet die große Blüte der Khmer-Kultur und es folgt eine lange Phase des langsamen Niedergangs.
1431 erleidet das Volk der Khmer eine vernichtende Niederlage gegen die benachbarten Thai.
In der Folge verlassen die Khmer-Herrscher Ankor Wat und verlegen die Hauptstadt in den Süden, in die Region des heutigen Phnom Penh.

Nach und nach verfielen die einst so glänzenden Bauten. Von den überwiegend aus Holz bestehenden Häusern der stolzen Hauptstadt sind praktisch keine Überreste geblieben. Die prachtvollen Steintempel aber wurden langsam von Urwald verschluckt...

Foto: gemeinfrei


Ich freue mich sehr darauf, im April und im Juni erstmals Gruppen im Musée Guimet, das nach dem Nationalmuseum in Phnom Penh über die weitaus größte und beste Sammlung von Khmer-Skulpturen verfügt, führen zu dürfen. Dann werden wir uns auch ein wenig mit der verwirrend vielfältigen Welt der Hinduistischen Gottheiten und Mythen auseinandersetzen.
Hier würde das den Rahmen sprengen.
Ich möchte zum Abschluss eine üppige Bilderstrecke (zum An- und Durchklicken) teilen – Fotos, die ich bei meinem jüngsten Parisaufenthalt gemacht habe und die hoffentlich ein wenig von meiner Begeisterung für diese Kunstwerke nachvollziehbar machen.