KUNSTgedankenEssen – Gelsenkirchen

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Essen – Gelsenkirchen

Es ist als beträte man eine Mondlandschaft. Die Stimmung im Morgengrauen mit den ersten Sonnenstrahlen im Rücken, dem Mond hoch über der gewaltigen Skulptur und den Nebelschwaden in den Niederungen, aus denen sich die hohen Schornsteine, Fabrikanlagen und Windräder des Ruhrgebiets erheben, war einfach umwerfend (und hat mich sehr entschädigt für selbst auferlegte Mühe, mich derart früh aus dem Bett zu zwingen – ich bin doch kein Frühaufsteher!)

50 Meter nur erhebt sich die Schurenbachhalde bei Essen über die flache Industrielandschaft. Ein bequemer Weg führt über gut 250 Stufen durch lockeren Bewuchs in gerader Linie hinauf und dann ist man urplötzlich in einer anderen Welt.

Schön? Nein, schön ist das alles nicht – jedenfalls nicht in einem konservativen Sinn des Wortes. Diese Kunstroute ist gewiss nicht das Richtige für diejenigen, die nach dem Lieblichen und Pittoresken suchen. Herb ist die Umgebung und herb sind auch die Kunstwerke, die uns hier begegnen. Aber: Was für einen eindrucksvollen Tag habe ich erlebt – und konnte gar nicht fassen, dass ich mir das bislang habe entgehen lassen!

Blick über die Geröllwüste der Schurenbachhalde. Im Dunst erheben sich in schnurgerader Reihe die Schlote der Kokerei Zollverein.

Es sind jeweils nur ein paar Kilometer, die zwischen den drei außergewöhnlichen Kunstorten liegen. Ich habe mir sehr viel Zeit zum Fotografieren genommen und war einen ganzen Tag unterwegs. Wer möchte, kann dasselbe auch gut in einen halben Tag packen und eventuell noch weitere Ziele ansteuern (ich mache unten ein paar Vorschläge). Ich selbst habe die Langsamkeit außerordentlich genossen. Kunstwerke und Orte hat man schnell gesehen – sie zu erleben braucht deutlich mehr Zeit.

Mit Richard Serras „Bramme für das Ruhrgebiet“ (1998), Markus Lüpertz’ „Herkules von Gelsenkirchen“ (2010) und Ulrich Rückriems „Skulpturenwald“ (1991) bei der Zeche Zollverein begegnen einem herausragende Werke dreier international bedeutender Bildhauer unserer Zeit – ein wirklich beeindruckendes „Gipfeltreffen“. Jedem der drei Künstler werden wir einmal einen ganz eigenen Beitrag widmen. Dann können wir intensiver auf den jeweiligen Ansatz und das Werk eingehen. Hier sollen eher knappe inhaltliche Informationen genügen. Viele (hoffentlich inspirierende) Bilder sprechen für sich. Unten finden Sie außerdem praktische Informationen, wenn Sie die Tour gerne selbst erleben wollen.

Richard Serras Bramme für das Ruhrgebiet

14,5 m hoch ragt sie aus dem Geröll auf. 4,2 m breit und 13,5 cm dick wiegt das Ungetüm sagenhafte 67 Tonnen – und wirkt doch erstaunlich grazil, wie sie da am höchsten Punkt auf der weiten kahlen Fläche steht.

„Scale is one of the most important things in sculpture!“

Den richtigen Maßstab zu wählen sei eine der wichtigsten und schwierigsten Herausforderungen in der Bildhauerei über­haupt, hat mein englischer Professor an der Kunstakademie immer wieder betont. Auf der Schurenbachhalde findet man das eindrucksvoll bestätigt. Was kann man an solch einem Ort aufstellen, das Bestand hat!?

Richard Serra ist ein herausragender Vertreter des „Mi­ni­ma­lis­mus“, jener Kunstrichtung, die in den 60er Jahren von New York ausgehend weltweit einflussreich wurde. Und minimalistischer kann bildhauerische Gestaltung nicht sein – weniger geht nicht. Und doch prägt die schlichte Eisenplatte ihre Umgebung auf höchst eindrucksvolle Weise.

Serras Essener Stahlplatte steht einsam da auf dem künstlichen Berg über der Industrieregion. In der Wüste von Katar hat der Künstler 2014 vier „jüngere Schwestern“ der Bramme für das Ruhrgebiet aufgestellt – eine eindrucksvolle minimalistische Landart-Installation, die ich sehr gerne einmal erleben würde.

(Eine Seite, die schöne Fotos davon zeigt, finden Sie HIER)

Brammenabbrennmaschine der HKM in Duisburg

Zum Titel: Eine „Bramme“ ist ein durch Gießen und Walzen hergestellter Strang Stahl, der in der Eisenindustrie als Rohmaterial zur Produktion von Blechen oder Bändern dient (siehe Foto unten). Als Serra übrigens seine Skulptur für die Schurenbachhalde gefertigt hat, gab es im Ruhrgebiet keine Fertigungsanlagen dieser Größe mehr, weshalb sie in einem französischen Werk hergestellt wurde.

Mr. Happy, de.wikipedia.org, CC BY-SA 3.0

Eine Sache, über die ich bei meinen Kunstbetrachtungen immer wieder rede, ist das, was ich mit dem Begriff „Ambivalenz“ zu fassen versuche – jene innere Spannung, die, so glaube ich, jedes wirklich gute Kunstwerk in der ein oder anderen Weise auszeichnet. Diese Spannung, erzeugt durch das Zusammenbringen scheinbar widersprüchlicher Dinge (Qualitäten, Eigenschaften, Inhaltlichkeiten), kann sehr unterschiedliche Formen annehmen.

In diesem Fall ist es der denkbar größte Kontrast zwischen der absoluten Nüchternheit und Sachlichkeit der Form sowie ihrer industriell-technischen Herstellung (ohne jeden Zierrat und ohne Schnörkel) und der geradezu mystisch-archaischen Anmutung – wie ein ins Industriezeitalter übersetztes rätselhaftes Kultzeichen uralter Megalithkulturen.

Der Herkules für Gelsenkirchen

Noch eine Monumentalskulptur: Mit 18 Metern Höhe übertrifft Markus Lüpertz’ Herkulesstatue Serras Bramme sogar noch um gut drei Meter. 2010 wurde der aus Aluminium gegossene Gigant (Gewicht: 8t) auf dem alten, umgebauten Förderturm der ehemaligen Zeche Nordstern aufgestellt und blickt seitdem von dort aus übers Revier. Er gehört zu einer ganzen Serie antiker Götter und Helden, die der selbsternannte „Malerfürst“, wichtiger Vertreter des sogenannten „Neoexpressionismus“, seit den 80ger Jahren modelliert hat. Ich habe schon eine ganze Reihe dieser Skulpturen fotografisch dokumentiert und werde sie schon bald in einem weiteren Artikel vorstellen. Dann werde ich viel differenzierter erläutern, was mich an diesen so seltsam ruppigen und zugleich fragilen Figuren reizt. Im Kern geht es (erstaunlicherweise) um Ähnliches wie bei Serras Skulptur auch - auch wenn die Werke scheinbar unterschiedlicher nicht sein können.

Wie das? – Ich erkläre es bei Gelegenheit …

Lohnend ist ein Spaziergang um das Gelände des „Nordsternpark“: Man sieht dann nicht nur wieder zurück zur Schurenbachhalde mit der Serra-Stele – auf diesem Foto kann man im Hintergrund die Hade Rungenberg mit der Lichtinstallation Nachtzeichen von Hermann EsRichter und Klaus Noculak erkennen.

Ulrich Rückriems Skulpturenwald auf Zollverein

Geradezu bescheiden und intim wirken Ulrich Rückriems Skulpturen im „Skulpturenwald“ nach den beiden Riesenwerken, die ich zuvor auf meiner Kunstroute gesehen habe. Ein ganzes Ensemble seiner gespaltenen, gesägten und wieder zusammengesetzten Steine aus Granit kann man hier entdecken. Auf reizvolle Weise verschmelzen sie fast mit der Umgebung der renaturierten Fläche (ebenfalls eine niedrige Halde) zwischen der alten Zeche und der Kokerei Zollverein. Sehr spannend ist es, den diametral gegensätzlichen Ansatz von Serras und Rückriems „Raumgestaltung“ so direkt miteinander vergleichen zu können – unterschiedlicher könnte es nicht sein. Dabei sind die beiden Künstler ja durchaus Verwandte im Geiste, denn Ulrich Rückriem zählt zu den wichtigsten Vertretern des „Minimalismus“ in Deutschland (ein eigener Beitrag zu diesem Begriff ist ebenfalls bereits angedacht).

Seit 5 Jahrzehnten hat sich Rückriems Arbeitsweise so gut wie nicht verändert. Immer wieder sind es ganz ähnliche Skulpturen - das immer gleiche Prinzip. Oft ist es mir einfach nur unbegreiflich, wie man das so lange machen kann. Aber dann bin ich immer wieder verblüfft, wie jedes seiner Werke dann doch auch wieder ein ganz eigenes ist (wenn man bereit ist, genau hinzuschauen). Unglaublich, wie viele Varianten dieses einfache Spiel zulässt.

Eine Entdeckungstour auf diesem besonderen Gelände mit seinem eigenwilligen Charme (zwischen Verfall, Bergmannsnostalgie und Rückeroberung der Natur) bietet eine sehr schöne Möglichkeit in den stillen Kosmos des Bildhauers einzutauchen.

„Kastell“ heißt die größte der insgesamt sechs Skulpturen dieses Ensembles - einer der seltenen Fälle, dass Rückriem seinen Werken Titel gibt.

Zur Documenta IX (1992) wurde erstmals ein Teil der Kasseler Ausstellung „ausgelagert“. Aus diesem Anlass sind auch die Arbeiten Rückriems entstanden. In den folgenden Jahren war der Bildhauer dann eng mit dem Ort verbunden, hatte er doch eine große Halle auf dem Gelände der Zeche Zollverein als Werkstatt und Ausstellungsfläche gemietet.


Auf der unten angefügten Karte sieht man, wie nah die drei Orte beieinander liegen. (GoogleMaps hat für die gesamte Strecke 10,5 km ausgerechnet.) Natürlich kann man die Reihenfolge nach Belieben ändern. Ich habe mich eben wegen der magischen Morgenstimmung für die Schurenbachhalde als erste Station entschieden. Da es ja aber, je weiter es auf die Sommermonate zu geht, immer unrealistischer wird, das so nachzuerleben, empfiehlt es sich vielleicht mit Serras Skulptur den Tag zu beenden – der Sonnenuntergang ist dort gewiss ebenfalls eindrucksvoll.

Wer das Programm ergänzen möchte, hat in der Region natürlich eine Vielzahl von Möglichkeiten. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Halden im Revier, die renaturiert und mit Kunst oder anderen mehr oder weniger eindrucksvollen Installationen bestückt wurden. Ich werde gewiss bald weitere davon aufsuchen und hier wieder davon berichten. Am übersichtlichsten sind die Orte auf einer entsprechenden Wikipedia-Seite aufgelistet, die ich hier verlinke:

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Halden_im_Ruhrgebiet

Natürlich bietet sich immer ein Besuch im wunderschönen Essener Folkwangmuseum an. Für meinen Geschmack ist das aber zu viel für einen Tag. Eher würde ich empfehlen, zum Vergleich weitere Skulpturen der besprochenen Bildhauer aufzusuchen. Oder nehmen Sie sich Zeit für das eindrucksvolle Industriedenkmal „Zollverein“, auf dem man ja ohne weiteres einen ganzen Tag zubringen kann.

Auf dem Außengelände des Folkwangmuseums steht Serras „House of Cards“ eine spätere Wiederholung aus seiner Serie minimalistischer Balanceakte, mit der er in den späten 60er Jahren weltberühmt wurde. Ungleich eindrucksvoller und bekannter (aber leider gar nicht besonders schön plaziert!) ist die gewaltige Skulptur „Terminal“ (1977) in der Nähe des Hauptbahnhofs im benachbarten Bochum (Ecke Ostring/Massenbergstraße).

Eine weitere Skulptur von Markus Lüpertz, sein „Uranos“ aus dem Jahr 2016, steht in der Essener Innenstadt hinter dem Grillotheater (Theaterplatz 6).

Ich habe mir fest vorgenommen recht bald schon die beschriebe Route als Tagesfahrt von Köln aus anzubieten. Dann habe ich Zeit, noch sehr viel ausführlicher über die Künstler und ihre Skulpturen zu sprechen. Auf jeden Fall lohnt aber auch ein Besuch in eigener Regie, bei dem man diese außergewöhnlichen Orte und Kunstwerke mit ihrer archaischen Kraft auf sich wirken lässt – ganz ohne viel intellektualisierende Information.

Ich wünsche jedenfalls ein wunderschönes Kunsterlebnis!
Ihr / Euer Ulrich Forster


Abschließend liste ich noch die Adressen auf, die Sie ins Navigationsgerät eingeben können, wenn Sie die Orte ansteuern wollen und gebe ein paar weitere praktische Tipps, die Ihnen hoffentlich bei der Planung eines spannenden Kunsttags helfen können:

Schurenbachhalde Essen (Serra)

Parkmöglichkeit: Emscherstraße, Kreuzung Eickwinkelstraße (Alternative: Musebrink oder Nordsternstraße)

Nordsternpark Gelsenkirchen (Lüpertz)

Geben Sie Fritz-Schupp-Straße oder Am Bugapark ins Navi ein. Ich konnte dort problemlos einen Parkplatz finden. Es gibt dort aber auch ein „Parkhaus am Nordsternpark“. Übrigens: die Skulptur ist natürlich „recht schnell gesehen“. Es lohnt aber durchaus ein Spaziergang rund um das Gelände. Von einer kleinen künstlichen Anhöhe aus sieht man (neben weiteren Halden der Umgebung) auch wieder hinüber zu Serras Stele.

Skulpturenwald Essen (Rückriem)

Wie erwähnt finden sich Rückriems Skulpturen auf einem Areal zwischen Zeche und Kokerei Zollverein. Das „Kastell“ ist gut beschildert und leicht zu finden. Ich habe mich dann einfach ein wenig treiben lassen (und auch nicht alle sechs Skulptren gesehen). Wer es enzyklopädisch mag, für den verlinke ich hier die liebevoll aufgearbeitete Seite von Günter Pilger – da findet man alle Detailinformationen: https://www.guenter-pilger.de/Skulpturen_4.htm. Wichtig: Das ganze Gelände ist riesig. Parken Sie unbedingt auf einem der Parkplätze in der Fritz-Schupp-Allee auf der „Rückseite“ der Zeche. (Von Gelsenkirchen kommend von der Gelsenkirchener Straße links abbiegen – da sieht man dann gut das Hinweisschild).