KUNSTgedankenDer Middelheim Skulpturenpark Antwerpen_Teil 3

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Der Middelheim Skulpturenpark Antwerpen_Teil 3

Ulrich Rückriem "Konstruktion" (1967)

Ich war einigermaßen überrascht, als ich beim Rundgang durch das Gelände zu dieser Skulptur kam. Das ist tatsächlich ein Rückriem?

Schon mehrmals habe ich in Beiträgen Skulpturen von Ulrich Rückriem (*1938) gezeigt und besprochen (z.B. im Beitrag "Essen-Gelsenkirchen"). Eigentlich ist es bei kaum einem Künstler leichter, seine Werke schon von Weitem wiederzuerkennen. Seit Jahrzehnten hat es Rückriem zu seinem Markenzeichen gemacht, große Steinblöcke zu spalten und aufzusägen und mehr oder weniger vollständig wieder zusammenzusetzen.
Der Middelheim-Skulpturenpark aber zeigt eine sehr frühe Arbeit des in Düren bei Köln geborenen Künstlers – nicht aus Stein, sondern aus blau lackiertem Stahl.

Rückriems Konstruktion unterschiedet sich ganz grundlegend von all den Skulpturen, die ich zuletzt besprochen habe. Diese Form ist nicht weich, hat nichts Organisches und sie erinnert uns nicht im Entferntesten an irgendetwas, das wir aus der Natur kennen.
Es ist eine eher maschinenhafte und eine sehr kühl geometrische Form – zwei präzise, nicht vollständig geschlossene Rechtecke, verbunden durch zwei exakte Halbkreise (was man auf dem Foto nicht leicht erkennt – da hätte ich noch eine Luftaufnahme machen müssen).
Solch eine Form nennen wir gemeinhin auch "abstrakt".
Allerdings lässt sie sich beim besten Willen nicht als Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, wie ich ihn im letzten Beitrag beschrieben habe, erklären – ihr liegen offensichtlich ganz andere Inspirationsquellen zugrunde.
Um der größeren Genauigkeit Willen bezeichnen Kunsthistoriker eine solche Form deshalb auch nicht als "abstrakt" sondern als "konkret". Rückriems Konstruktion ist ein besonders prägnantes Beispiel für das, was man "konkrete Kunst" nennt.


Philipp King "Bali" (1977)

Einige Meter weiter findet sich eine weitere lackierte Metallskulptur. Sie trägt den Titel Bali und stammt vom englischen Bildhauer Philipp King (1934 - 2021).
Der im vergangenen Sommer verstorbene Künstler war zunächst Assistent von Henry Moore und später Student von Anthony Caro an der St. Martins School of Art in London. Somit hat er unmittelbare Anregungen der beiden wichtigsten britischen Bildhauer des 20. Jahrhunderts aufgenommen.
Henry Moores Schaffen ist geprägt von einer kontinuierlichen Suche nach Abstraktion. Er geht vom realistischen Abbild aus und entfernt sich nach und nach immer weiter davon, löst sich aber niemals vollständig vom Vorbild der Natur, des menschlichen und anderer organischer Körper.
Von dieser Ästhetik ist bei King allerdings nichts mehr zu spüren. Von künstlerischen Ansatz Caros dafür um so mehr.

Dieser Anthony Caro hat in London eine ganze Schar von Schülern hervorgebracht, die in den späten 60ern und frühen 70ern das ästhetische Erbe des großen Henry Moore zu Grabe getragen haben und die wild experimentierend nach der Kunst für die New Generation (so der Titel einer Gruppenausstellung in der einflussreichen Whitechapel Gallery) suchten.

Es ist die Zeit der permanenten gierigen Suche nach dem Immer-Neuen, der ständigen Erweiterung und Neudefinition von Kunst. Mehr noch als in der Malerei setzten dabei viele Kunstschaffende und -theoretiker auf die unausgeschöpften Potenziale der Skulptur. Besonders die schier unbegrenzten Möglichkeiten, welche die Verwendung von (vorgefertigten) Eisen- und Stahlelementen als Bildhauermaterial boten, waren neu und aufregend.
Man stelle sich einmal vor, jemand würde versuchen, eine Skulptur wie Philipp Kings Bali aus den klassischen Materialien Holz, Stein oder Modellierton zu formen...

Auch Bali kann als "konkrete Skulptur" eingenordet werden. Allerdings steht hier nicht wie bei Rückriems Konstruktion eine mathematisch-geometrische Idee am Anfang des Schaffensprozesses. Es ist vielmehr das Ausloten der neuen schöpferischen Möglichkeiten selbst, das hier im Vordergrund steht. Der Bildhauer haut, schnitzt und modelliert nicht mehr – die New Generation stellt, lehnt, balanciert, schweißt, nietet, schraubt und lackiert...


Jorge Dubon "Bosque metalica" (1970)
Bernhard Rosenthal "Odyssey" (1968)

Ein ganzes Abteil des Skulpturenparks zeigt farbige Stahlskulpturen (zumeist aus den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts), die von den oben beschriebenen Ideen geprägt sind. Nicht nur in England, sondern in den meisten Ländern der westlichen Welt trat die konstruierte Stahlskulptur in jener Zeit ihren großen Siegeszug an.


Wie einfach und zugleich wirkungsvoll farbige Stahlskulptur auch funktionieren kann, zeigt der in Venezuela geborene und in Paris gestorbene Maler und Bildhauer Jesús Rafael Soto (1923 - 2005).
Seine Double Progression besteht aus unterschiedlich hohen, türkis-grün oder weiß lackierten Rundstäben. Hier ist allerdings nichts geschraubt, geschweißt oder anderweitig konstruiert. Die fragile Installation scheint wie in flirrender Bewegung. Soto ist ein wichtiger Vertreter der "Kinetischen Kunst" und der "Op-Art" (optical art).

Jesús Rafael Soto "Double Progression" (1969)

Tony Cragg "Envelope" (1996)
Richard Deacon "Never Mind" (2017)

Großbritannien hat im 20. Jahrhundert eine erstaunlich große Zahl kreativer und hoch erfolgreicher Bildhauer hervorgebracht. Der in Liverpool geborene Tony Cragg (geb. 1949) und der gebürtige Waliser Richard Deacon (geb. 1949) gehören dazu und sie entstammen demselben Jahrgang.

Beide suchen unermüdlich nach neuen Möglichkeiten und haben ein äußerst umfangreiches Werk geschaffen. Beiden sollte ich hier im Magazin bald einmal einen eigenen Beitrag widmen, denn ihre vielschichtigen Ansätze hier mit wenigen Sätzen abzuhandeln, wäre nicht angemessen. Skulpturen von diesen Künstlern sind in vielen Museen und Skulpturensammlungen zu finden und an ungezählten Orten im öffentlichen Stadtraum in aller Welt präsent.
Tony Craggs Oeuvre kann man außerdem im herrlichen Skulpturenpark Waldfrieden in seiner Wahlheimat Wuppertal bewundern.


Schon im ersten Teil meiner kleinen Reihe angesprochen:
Der Begriff "Skulptur" wird heute sehr weit gefasst und auch im Middelheimpark findet man viele Objekte, die nur noch sehr wenig gemeinsam haben mit jenen klassischen Bronzefiguren, mit denen ich meinen virtuellen Rundgang begonnen habe.

Wenn der Concept-Art-Pionier Lawrence Weiner eine Hauswand mit kryptischen Sätzen bemalt, oder wenn der radikale Minimalist Carl André zwei Reihen identischer quadratischer Stahlplatten parallel entlang eines der Hauptwege legt, oder wenn William Forsythe (geb. 1949), von Beruf eigentlich Tänzer und Choreograf, einfache Parkbänke aufstellt, auf deren Lehnen Anweisungen eingraviert sind wie:

William Forsythe "Backwards" (2018)

...dann kann man sich natürlich ganz ernsthaft die Frage stellen, ob es wirklich sinnvoll sein kann,
das alles Skulptur oder Bildhauerei zu nennen.
Man kann das mit einigem Recht.

Oder man verzichtet auf solche grüblerischen Grundsatzfragen und beschließt,
sich stattdessen einfach treiben zu lassen und zu schauen,
was einen anspricht, was einen anregt, erregt,
befremdet, belustigt
oder einfach nur gefällt.

WALK IN LIKE YOU MEAN IT

...fordert eine Inschrift am Boden einer der Eingangstore auf (ebenfalls ein "Forsythe").
Genau so machen wir es.


Die Kunst (oder besser: die Mechanismen, die den Betrieb der Kunst unserer Zeit treiben und bestimmen) streben nach Erneuerung und nach ständiger Erweiterung. Ich konnte hier deshalb unmöglich eine auch nur annähernd erschöpfende "Geschichte der modernen Bildhauerei" skizzieren.

Immer wieder wurden in den letzten Jahrzehnten auch die Grenzen zwischen Skulptur und Architektur ausgelotet. Eine naheliegende Idee, zeichnen sich beide Kunstgattungen doch dadurch aus, dass sie der dreidimensionale Körper im Raum als ein grundlegendes Thema verbindet. Bildhauer wie etwa Fritz Wotruba haben Architektur (Wotrubakirche Wien) und Architekten wie Frank Gehry Gebäude geschaffen, die wie riesige Skulpturen wirken.

Mit zwei Grenzgängern (sind es zweckfreie Architekturen oder architekturhafte Skulpturen?) beende ich nun meinen Spaziergang.

Robbrecht & Daem aus Gent leiten ein höchst erfolgreiches Architekturbüro.

Der Däne Per Kirkeby (1938 - 2018) war eigentlich studierter Geologe, zog es dann aber vor zu malen, "Happenings" zu veranstalten, zu dichten und zu bildhauern und wurde berühmt für seine ziegelsteingemauerten Großobjekte.

Gebäude?

Skulpturen?

Was auch immer...

 

Robbrecht & Daem "Het Huis" (2012)
Per Kirkeby "Zonder titel" (1993)