KUNSTgedankenDer Bildhauer Antony Gormley

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Der Bildhauer Antony Gormley

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Alles an diesem Landstrich ist ziemlich unwirklich – unnatürliche Natur. Etwa die 26 Kilometer lange Straße auf dem Houtribdijk, der das Ijsselmeer vom Markermeer abtrennt: neben der Straße rechts und links nur Wasser, soweit das Auge reicht. Bevor man dann an einem Ende dieser Straße bei Lelystad auf Land trifft, muss man noch an einem gewaltigen Schleußenkomplex vorbei, der die Schifffahrt zwischen beiden Gewässern möglich macht. Der eigentliche Deich ist dort zu Ende, er wird aber noch als Wurmfortsatz von einem Leitdamm verlängert.
Auf diesem Damm, fast an der Spitze, dort wo die Schiffe in den Schleußenkanal einbiegen, hockt ein Mann und blickt in die Ferne. Eine gewaltige Kreatur, 26 Meter hoch und tonnenschwer. Aber auch wenn er sich damit in die Liste anderer gigantischer Riesenskulpturen einreiht, dem sagenhaften Koloss von Rhodos etwa, hat er doch gar nichts Martialisches, nichts von dem protzig Monströsen, das vergleichbare Monumentalplastiken oft so abstoßend oder mindestens furchtbar pathetisch machen.
Und damit ist auch schon das wichtigste gesagt über die besondere Qualität einer außergewöhnlichen Skulptur des britischen Bildhauers Antony Gormley:

EXPOSURE (aus dem Jahr 2010)

Es ist ungemein schwer, eine angemessene Skulptur für solch einen Ort zu schaffen. Groß muss sie sein, sehr groß, sonst geht sie hoffnungslos unter. Wie aber schafft man etwas, das groß genug ist und das zugleich den fatalen Eindruck von Gigantomanie und Größenwahn vermeidet? Noch dazu, wenn es sich um eine Figur handelt?

Es sieht so einfach aus, wenn es gelungen ist und man meint, man hätte selbst darauf kommen können...

Was "Exposure" gelingen ließ, hat mit jener Qualität von Kunstwerken zu tun, die ich gerne mit dem Begriff "Ambivalenz" zu fassen versuche.

MACH ETWAS (UND ZWAR ENTSCHIEDEN) – UND DANN SUCHE DAS GEGENTEIL DAVON UND SCHAFFE DEN AUSGLEICH

Warum erschlägt einen Gormleys Gigant nicht? Warum wirkt er bei seiner Größe nicht grob und monströs, sondern im Gegenteil geradezu anrührend – sogar zart?

Weil er das schiere Gegenteil jener Kolosse ist, die von der Antike bis hin zu den Hermanns, Vercingetorix' oder Bismarck-Riesen des 19. Jahrhundert (von faschistischen oder stalinistischen Ungeheuern ganz zu schweigen), meist nicht nur mit ihrer schieren Größe, sondern auch durch pathetisch-heroische Posen beeindrucken und den Betrachter einschüchtern wollen.

Gormleys Mann aber (warum bin ich mir eigentlich so sicher, dass es ein Mann ist?) hat absolut nichts Heroisches an sich. Er hockt da – sehr still, gedankenversunken – nicht plump oder schwerfällig, sondern aufrecht gespannt in einer Stellung, die unsereiner nicht besonders lange durchhalten würde – er aber ist dabei vollkommen ausgeglichen und stabil – er sitzt für die Ewigkeit da...
(vielleicht am ehesten einer sitzenden Buddha-Figur vergleichbar).

Die Pose spielt also fraglos eine entscheidende Rolle.

Aber das ist nicht alles. Es gibt eine andere "Ambivalenz", die genauso wichtig ist:

Obwohl sie viele Tonnen schwer ist, wirkt sie doch ganz leicht. Denn sie ist nicht aus massivem Gestein gehauen und auch nicht umgeben von einer undurchdringlichen Haut aus Metall, sondern man sieht durch sie hindurch. Transparent ist die Skulptur, wie das Gespinst eines raffiniert gebauten Spinnennetzes.

Je näher man an die Figur herantritt, desto mehr löst sich ihre Figürlichkeit auf. Ist man dicht bei ihr und blickt hinauf, sieht man nur noch in ein Gewirr von Metallstreben – einfache L-Winkel-Schienen, alle annähernd gleich lang und äußerst nüchtern verschraubt.

Das sind weitere "Ambivalenzen":

– Figürlichkeit (vielleicht sogar etwas sentimentale Inhaltlichkeit: der sinnende Mann) gepaart mit äußerst nüchterner Konstruktion

– Komplexität und größte Einfachheit zugleich

Es ist so einfach zu beschreiben, wenn es gelungen ist...


Antoney Gormley ist am 30. August 1950 in London geboren. Im Teaser zu seiner Homepage (https://www.antonygormley.com/ ) wird er vorgestellt als british sculptur, creator of the "Angel of the Nord, "Field for the British Isles" and "Quantum Cloud". Dabei handelt es sich um drei weitere Großprojekte im umfangreichen Oeuvre des Bildhauers, dessen vielschichtiges Werk sich nicht einfach in eine Schublade stecken lässt.
Gormley trennt nicht zwischen Abstraktion und Figürlichkeit, es gibt konzeptbetonte Arbeiten und konstruktive, Schlichtes und Spektakuläres wechselt sich ab.
Gormleys Skulpturen bestehen sehr häufig aus Metall, aber er verwendet auch ganz andere Materialien, wie Stein, Holz, Beton, Ton oder sogar Toastbrot.


Nachdem ich im Sommer "Exposure" im holländischen Flevoland kennengelernt habe, zu dessen umfangreicher Sammlung landschaftsbezogerer Kunstwerke die Skulptur zählt, bin ich neugierig auf den Künstler geworden. Anfang Oktober war ich dann erstmals im wunderbaren Middelheim-Skulpturenpark bei Antwerpen, wo ich auf eine weitere interessante Arbeit Gormleys gestoßen bin:

FIRMAMENT III (ein Jahr vor "Exposure" im Jahr 2009 entstanden)

Wieder handet es sich um eine jener netzartigen Strukturen, wie sie vielfach im Werk Gormleys vorkommen.

Über einer Bodenplatte erhebt sich ein transparenter Kubus aus Edelstahlmodulen, knapp 11 Meter lang, nahezu 7 Meter breit und 3,80 Meter hoch.
Der Titel "Firmament" leuchtet ein. Fokussiert man auf die kugelförmigen Knotenpunkte, in denen die vierkantigen Stahlstäbe zusammenlaufen, fühlt man sich tatsächlich an einen Sternenhimmel erinnert.
Den menschlichen Körper (in 10-facher Lebensgröße) zu entdecken, der als Hohlkörper der Struktur eingeschlossen sein soll, wie es auf der Werkbeschreibung des Middelheim-Museums zu lesen ist, war mir auch beim aufmerksamsten Umschreiten unmöglich (und ich kann ihn auch in der schönen Luftaufnahme des Drohnenflugs im eigebetteten Film unten nicht erkennen).
Trotzdem hat auch diese Arbeit des Briten etwas, das mich fasziniert. Auch hier dieses Changieren zwischen Einfachheit und Komplexität – zwischen technoider Konstruktion und Organik (selbst wenn man keine menschliche Figur entdeckt).


Wer (wie ich) neugierig geworden ist auf weitere Werke des Künstlers, der hat noch bis zum 24. April 2022 die Möglichkeit dazu in einer umfangreichen Einzelausstellung mit dem Titel "LEARNING TO BE" im "Schauwerk" in Sindelfingen. Dort ist die ganze Bandbreite von Gormleys Schaffen zu erleben. Der unten eingebettete Ausstellungsfilm gibt einen guten Einblick.

Den Bildhauer auch als Person und weitere Projekte kann, wer möchte, in einem älteren Film der Deutschen Welle aus dem Jahr 2013 kennenlernen. Viel Vergnügen damit!