KUNSTgedankenBilderrätsel_69_auflösung

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Viele Kunstkenner sind verblüfft und irritiert, wenn sie dieses Bild sehen. Es ist so ganz anders als das, was wir von dem berühmten Maler eigentlich erwarten.

In der Tat: Sein Frühwerk unterscheidet sich gewaltig von den Bildern seiner reifen Jahre.
Seine Entwicklung geht mit einen (jedenfalls für vormoderne Zeiten) ganz außergewöhnlichen Stilwandel einher und lässt sich durch die extremen Wechselfälle und Umbrüche der Weltgeschichte während seiner Lebenszeit ebenso erklären wie durch das individuelle Schicksal des Künstlers...

 

Francisco de Goya "Der Sonnenschirm" (1777) Prado Museum, Madrid

Francisco de Goya "modo de volar" - aus der Serie "Los disparates" (1815 - 1823)

So dürfte er den meisten vertraut sein: Francisco de Goya (1746 - 1828), der Großmeister des Fantastischen, der Visionär dunkler Albtraumwelten, der Surrealist avant la lettre...

"Modo de vola" (eine Art zu Fliegen) ist eine Radierung aus der Serie "Los Disparates", die Goya zwischen 1815 und 1823 geschaffen hat.

Francisco de Goya "Der Sommer /die Ernte" (1786) Prado Museum, Madrid

Begonnen hat der aus der aragonesischen Provinz stammende Maler seine Karriere aber ganz anders, als er 1775 vom Hofmaler der spanischen Bourbonenkönige, dem deutschen Klassizismus-Papst Anton Raffael Mengs, eine erste Anstellung in Madrid vermittelt bekam.
Heiter-luftige Genreszenen entwarf er für die königliche Teppichmanufaktur. Nach diesen Vorlagen wurden dann Wandteppiche gewebt, die zur Ausstattung des neuen Palastes in der spanischen Hauptstadt vorgesehen waren. Zu dieser Serie von Auftragswerken gehört auch unser Rätselbild "Der Sonnenschirm" aus dem Jahr 1777.
Der aufgeklärte Herrscher wollte sich mit Alltagsszenen aus dem Leben seines Volkes umgeben – ein äußerst fortschrittlicher Gedanken und sehr löblich (auf so einen seltsamen Einfall wäre ein Monarch des ungehemmten Absolutismus à la Louis XIV (aus der französischen Bourbonen-Linie) wenige Jahrzehnte zuvor nicht einmal im Traum gekommen.)
Dass es dabei natürlich jederzeit heiter zugehen sollte und das geliebte Volk auf den Bildern seinen Tätigkeiten stets lustvoll fröhlich nachzugehen hatte – nun ja, wir sollten nachsichtig sein: erst im folgenden Jahrhundert werden die Maler des Realismus es vorsichtig wagen, zu zeigen, dass Erntearbeit in der glühenden andalusischen Sommerhitze vielleicht doch nicht immer nur ein reines arkadisches Vergnügen ist.
Bis es soweit kommt, muss noch eine Menge passieren: Die Gedanken der Aufklärung werden sich europaweit immer machtvoller durchsetzen. Die französische Revolution wird den Kontinent erschüttern und trotz aller Restaurations-Bemühungen nach der Niederlage Napoleons wird die neue Zeit nicht aufzuhalten sein und damit das Ende des feudalistischen Zeitalters und der Idee gottgewollter Herrschaften unwiderruflich dem Ende entgegen gehen...

Francisco de Goya "Selbstbildnis" (1815) Real Academia de bellas Artes de San Fernando, Madrid

Der Maler Francisco de Goya ist einer jener Menschen, deren Lebensdaten all diese dramatischen Umbrüche umfasst. Als er 1828 im französischen Exil stirbt (vier Jahre zuvor war er aus Spanien geflohen, um sich der Repressionen im besonders restriktiven Klima seiner Heimat zu entziehen), ist die Welt eine vollkommen andere, als die, in die er Mitte des 18. Jahrhunderts hineingeboren wurde und in der er seine ersten Schritte als Künstler begann.
In kaum einem anderen Werk lässt sich der gewaltige Epochenumbruch deutlicher ablesen, als in dem des großen Spaniers.

Zu den geschichtlichen Ereignissen kommt noch seine persönliche Biografie.
Besonders prägend war fraglos jener Schicksalsschlag, den er mit einem anderen Großen jener Zeit teilt – dem Komponisten Ludwig van Beethoven (1770 - 1827). 1792 erkrankt Goya schwer und leidet in der Folge für den Rest seines Lebens unter fast vollständiger Taubheit.

Francisco de Goya "La gallina ciega" (das Blindekuh-Spiel) (1789) Prado Museum, Madrid

In den Entwürfen für die königliche Teppich-Manufaktur ist von den dramatischen Verwerfungen noch nichts zu ahnen und unendlich weit weg sind diese Bilder noch von den finsteren Visionen der "Disparates" oder gar jener "Pinturas negras", die Goya zwischen 1819 und 1823 an die Wände seines Privathauses gemalt hat.
Hier ist alles noch licht und hell – unbeschwert sorgloses Spiel...

Oder sollen wir vielleicht doch das "Blinde-Kuh-Spiel" der Rokoko-Gesellschaft aus dem Revolutionsjahr 1789 als satirisch-böse Metapher voll visionärer Vorahnung verstehen? Aus der Rückschau scheint das sehr verführerisch. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich dabei um einen offiziellen Auftrag handelt und dass wir das Einverständnis des königlichen Auftraggebers und seiner Berater selbstverständlich annehmen müssen.
Nein, hier wird wohl genauso wie auf dem Ernte-Bild eine einfache und geordnete Welt gezeigt, in der jeder Mensch seinen vorherbestimmten Platz einnimmt und auf diesem glücklich zum Wohle aller beitragen kann. Heitere Illusion – unbeschwerter Tanz am Kraterrand des Vulkans – kurz vor dessen machtvollen, alles erschütternden Ausbruch...

Francisco de Goya "Saturn frisst seine Kinder" - aus den "Pinturas negras" (1819-23) Prado Museum, Madrid