KUNSTgedankenBilderrätsel_62_Auflösung

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Ist dieses Rätsel zu leicht?

Es kann in der Tat sein, dass nicht wenige es auf ersten Blick erkennen und ich mir jegliche weiteren Hinweise sparen kann.

Dabei wäre es vor gar nicht so vielen Jahren ein geradezu unmögliches Bilderrätsel gewesen, an dem so gut wie alle trotz massiver Unterstützung durch ergänzende Kommentare hoffnungslos gescheitert wären. Urplötzlich aber stiegen seine Popularitätswerte in schwindelerregende Höhe...

So schnell kann das gehen.

Carel Fabritius "Der Diestelfink" (1645) Mauritshuis, Den Haag

Ob Carel Fabritius tatsächlich Mitarbeiter in der Werkstatt des großen Rembrandt wurde, als er 1641 als 19-jähriger nach Amsterdam übersiedelte, lässt sich nicht zweifelsfrei nachweisen, da keine entsprechenden Dokumente existieren.
Sieht man sich aber sein Selbstporträt aus dem Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam an (das Bild links - es lässt sich durch Anklicken vergrößern), besteht kein Zweifel, dass dieser Rembrandt für den jungen Maler das große prägende Vorbild gewesen sein muss.
Es gelingt ihm mit frappierender Sicherheit den typischen Pinselstrich des Meisters nachzuahmen – jene besondere Weise die pastose Farbe derart aufzutragen, dass das Bild eher modelliert als gemalt erscheint (auch wenn er nicht wie in dem Spätwerk "Die Judenbraut" die Ölfarbe tatsächlich zentimeterdick aufträgt und das Bild zum Relief wird):
Er muss eine herausragende Künstler-Begabung gewesen sein, dieser Fabritius. Und doch war sein Weg mühsam und sowohl von beruflichen wie auch von zahlreichen privaten Schicksalsschlägen geprägt.

Erst relativ spät schaffte er es, sich eine halbwegs erfolgreiche eigene Werkstatt aufzubauen und aus seiner Spätzeit stammen die Werke des Malers, die ihm unter den Experten der kunsthistorischen Zunft einen guten Ruf verschafft haben.

Vielleicht hätte ja doch noch ein wirklich Großer aus der eindrucksvollen Phalanx bedeutender Maler und Malerinnen des Goldenen Zeitalters der Niederlande werden können. Aber gerade als es aufwärts zu gehen schien und er zu seiner eigen Handschrift fand, tat es einen riesigen Knall – und alles war von einer Sekunde auf die andere vorbei...

Was ist das doch für eine aberwitzige Ironie der Geschichte: Genau jenes tragische Ereignis, das Carel Fabritius Leben (wie das von vermutlich mehreren hundert weiteren Menschen) ausgelöscht hat und das außerdem sämtliche angefangenen und noch unverkauften Bilder in seinem Atelier vernichtete, genau dieses furchtbare Ereignis hat mit der Verspätung mehrerer Jahrhunderte dazu geführt, dass der zu Lebzeiten mäßig erfolgreiche Maler, dessen Name noch vor 10 Jahren nur wirklichen Kennern geläufig war, heute auch vielen Laien ein Begriff ist – auch solchen, die nur selten einen Fuß in ein Museum setzen.
Es war eine fürchterliche Katastrophe.

Doch ohne diese wäre ein kleines dekoratives Gelegenheitswerk niemals zu einem höchst populären Star in einem Museum werden konnte, das mit Meisterwerken nur so gespickt ist.

Egbert van der Poel "Ansicht von Delft nach der Explosion von 1645" National Gallery London

Am 12. Oktober 1645 explodierte in der Stadt Delft, in der sich Fabritius vier Jahre zuvor niedergelassen hatte, ein Turm, der als Lager für Schwarzpulver diente. Das verheerende Ereignis, bei dem ein ganzes Stadtviertel dem Erdboden gleich gemacht wurde, ist unter dem Namen "Delfter Donnerschlag" in die niederländische Geschichte eingegangen. Carel Fabritius ist das prominenteste Opfer dieses Infernos.


Ich erinnere mich sehr gut an meinen ersten Besuch im Mauritshuis. Es war 2011 und ich bereitete meine erste Kunstreise nach Haarlem, Den Haag und Amsterdam vor – die herrliche Zeitreise in die Welt von Frans Hals, Rembrandt und Vermeer (der berühmteste Delfter Maler, der sich glücklicherweise am 12. Januar 1654 an einem anderen Ort aufhielt – wir hätten sonst nie von ihm erfahren...).
Damals hing das kleine Bildchen mit dem Titel "Der Diestelfink" unauffällig an der Innenseite einer im Treppenhaus positionierten Stellwand (nach der umfassenden Renovierung des Museums hat man erfreulicherweise auf diese wenig stilvollen Hängeflächen-Erweiterungen verzichtet).
Wer hat es damals schon beachtet!?!
Im Mauritshuis gibt es ja auch solch eine Überfülle herausragender Meisterwerke – Rembrandts letztes Selbstporträt, seine großartige "Susanna im Bade" oder die spektakuläre "Anatomie des Dr. Tulp"...
Ach ja, und natürlich Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrring" oder die "Stadtansicht von Delft" (Sechs Jahre nach dem Desaster gemalt und so strahlend schön und friedlich, dass man niemals ahnen würde, dass hier unlängst etwas Furchtbares geschehen ist).

Als ich wenige Jahre später wiederkam, hatte sich alles geändert: Fabritius "Diestelfink" hatte einen neuen Platz an der Stirnwand eines Raumes und in einer wirkungsvollen Sichtachse vom Treppenhaus aus platziert. So präsentiert man im Museum die wichtigen Hauptwerke.

Es ist geradezu ein Lehrstück darüber, wie Aufmerksamkeitslenkung funktioniert und warum bestimmte Kunstwerke sich herausragender Bekanntheit erfreuen, während andere brillante Meisterwerke ein unbeachtetes Schattendasein in den Nebenräumen unserer Kunstmuseen führen.
Mit der tatsächlichen Qualität eines Kunstwerks hat das eigentlich recht wenig zu tun. Es sind ganz andere Faktoren, die aus einem Gemälde einen Publikumsmagneten machen.

Im Fall des "Diestelfinken" war es ein sensationeller Romanerfolg. Fabritius' Bild spielt eine zentrale Rolle im dramatischen Plot des Romans.
2019 wurde der Erfolgsroman dann auch noch spektakulär verfilmt. Spätestens seit dieser Zeit strömen viele Menschen extra wegen dieses einen Gemäldes ins Museum.

Doch, doch – es ist schon hübsch gemalt, das kleine Bildchen – keine Frage. Aber es unterscheidet sich keineswegs erheblich von zahllosen anderen virtuosen Kunststückchen, die in jenem Jahrhundert entstanden sind. Es ist ein "Tompe-l'oeil" – ein Kabinettstück, das mit der Überraschung des Betrachters spielt, der verblüfft erkennt, dass er sich getäuscht hat, als er das Abbild zunächst für die Wirklichkeit gehalten hat.

Carel Fabritius, vermute ich, käme wohl aus dem Staunen nicht heraus, wenn er sähe, dass gerade dieses Bild solch eine Berühmtheit werden konnte. Vielleicht wäre er amüsiert. Vielleicht auch ein wenig ungehalten – möglicherweise sogar beleidigt.
Er hatte doch schließlich bei weitem Anspruchsvolleres gemalt!

Carel Fabritius "Die Torwache" (1654) Staatliches Museum Schwerin
Carel Fabritius "Ansicht von Delft mit einem Musikinstrumentenverkäufer" (1652) National Gallery London